9. – 20. August 2015 – Nach 200 Metern und einmal um die Ecke waren wir auch schon oben. Wieder einmal gab es kein Schild, das uns bestätigte, dass wir über 3.400m hoch waren. Wie immer machten wir ein Paar Fotos, genossen die Aussicht, zogen warme Klamotten an und rollten dann bergab. Endlich! Wir passierten einige Yurt-Camps bevor wir uns für ein kleineres Camp mit Seeblick entschieden, um hier die Nacht zu verbringen. Mit den praktisch veranlagten Kindern stellten wir unser Zelt auf und genossen dann gemeinsam mit der Familie Chai, Brot und Kumys. Kumys ist fermentierte Stutenmilch und ein beliebtes Nationalgetränk im Frühling und Sommer. Es enthält ein wenig Alkohol, schmeckt säuerlich und prickelt ein bisschen auf der Zunge. Sicher trinkbar, aber nicht wirklich unser Geschmack, vor allem weil auch noch viele undefinierbare Dinge darin herumschwimmen.







Die Kommunikation war allerdings recht mühselig, da mein Russisch ebenso rudimentär ist wie das Englisch der Einheimischen. Jetzt kam uns endlich unser praktisches Russisch-Deutsch-Reisewörterbuch zugute, da wir herausfinden wollten, wann es Abendessen gibt. “Gibt es warmes Essen?” war allerdings das Beste, was wir finden konnten. Später, auf der Suche nach einer kleinen Pension, bewies sich unser Wörterbuch als noch nutzloser mit Sätzen wie “Haben Sie ein Zimmer mit Seeblick?”. Zeichensprache oder unser Bilder-Wörterbuch stellten sich dann doch immer wieder als deutlich praktischer heraus.
Aufgrund der Höhe von über 3.000m ist das Gebiet um Song Köl nur zwischen Anfang Juni und Ende August zugänglich. Während dieser Zeit bauen die Hirten ihre Yurten auf und bringen ihren Viehbestand auf die Weiden nach oben. Gleichzeitig beginnen auch die Schulferien, damit die Familie gemeinsam umziehen kann. Uns hat die Lebensweise und die Art, wie die Kinder aufgezogen werden, sehr beeindruckt. Schon früh werden die Kinder an die Arbeit gewöhnt, die Älteren kümmern sich um die kleinen Geschwister, Mädchen helfen beim Kochen und Wasserholen aus den nahen Flüssen, Jungs hüten die Kühe, Schafe oder Pferde. Die Menschen sind den ganzen Tag beschäftigt, trotzdem spürten wir keinerlei Hektik oder Stress, ganz im Gegenteil. Die Erwachsenen stehen bei Sonnenaufgang auf, die Kinder schlafen ungestört weiter, bis sie von selbst aufwachen.
Gemeinsam haben wir am nächsten Morgen mit der ganzen Familie gefrühstückt – dieses Mal gab es fettige und mit Zwiebeln angebratene Nudeln und natürlich Chai. Danach radelten wir weiter um den See.





Der See ist umgeben von unzähligen Gipfeln und saftig-grünem Weideland. Alle Paar Kilometer stehen Yurten auf den Wiesen. Irgendwie fühlte es sich an, als radelten wir durch eine Hollywood-Landschaft für einen Western mit Cowboys nah und fern. Wir konnten an dieser Landschaft kaum sattsehen, die ganzen Anstrengungen, um dorthinzukommen, waren vergessen.


Über einen weiteren Pass und danach über 33 Kehren nach unten verließen wir das Gebiet wieder. Wieder gab es beeindruckende Aussichten über das ganze Tal und die hohen, schneebedeckten Berge, von denen wir wussten, dass wir sie demnächst auch noch überqueren mussten.


Pass um Pass eroberten wir, leider noch immer auf so unglaublich schlechten Straßen, dass wir nur langsam in Richtung Osch vorankamen. An einem Tag mussten wir früher anhalten, da es mir schlecht ging. Ich musste mich übergeben und uns wurde schnell klar, dass wir den nächsten Pass heute nicht mehr schaffen würden. Wenige Tage später verbrachte Johan die meiste Zeit unseres Ruhetages im Bett beziehungsweise auf der Toilette, er hatte Durchfall. Am nächsten Tag ging es dann trotzdem weiter, da ich eine Übersetzung abliefern musste und dafür Internet brauchte und wir einen über 3.000 Meter hohen Pass überqueren mussten. Ein weiterer sehr anstrengender Tag mit schwachen Körpern, unendlichen hügeligen Straßen, Kieselsteinen, Felsen, Staub und einer erbarmungslos auf uns herunter scheinenden Sonne. Temperaturen um die 35 Grad und rasende Audis 100 – 50% der Bevölkerung fährt Audi 100 und die andere Hälfte fährt japanische Autos mit dem Lenkrad auf der rechten Seite – machten die Reise nicht einfacher. Aber wir hielten durch, stellten unser Zelt am Fuße des Passes an einem Fluss auf, wo wir uns waschen und kochen konnten und uns ein wenig von den Anstrengungen des Tages erholten.




Dann kam unser Glückstag. Wir schlängelten uns an einem wolkenlosen und heißen Tag langsam auf unserem letzten Pass vor Osch hoch, als eine Münchnerin in ihrem Geländewagen hielt und uns mit Nimm 2 und Wasser versorgte. Wenige Kilometer weiter oben kam uns dann ein weiteres deutsches Auto entgegen, dieses Mal zwei Jungs, die an einer Ralley von London in die Mongolei teilnahmen. Auch sie füllten unsere Wasserflaschen auf. Später, wir kochten gerade leckere Spaghetti am Straßenrand, hielten drei Autos aus Frankreich und Belgien – wieder gab es frisches Wasser und dieses Mal sogar noch Schweizer Schokolade.










Mit der Überquerung dieses Passes waren wir nun offiziell in Süd-Kirgisistan. Und in vielerlei Hinsicht fühlte sich dieses Gebiet fast wie ein anderes Land an. Viel heißer – sowohl das Klima als auch das Temperament der Menschen – und näher an der islamischen Kultur als das industrialisierte, russifizierte Bischkek im Norden. Die Menschen sind auch hier unglaublich gastfreundlich, reichten uns Gemüse oder Obst, wenn wir vorbeifuhren und begrüßten uns in den Dörfern winkend und mit herzlichen Hallos und Bye-Byes.


Die Landschaft hat sich auch geändert: von der trockenen, rauhen, baumlosen und fast ausschließlich gelb-verbrannten Landschaft in eine immer noch bergige, aber viel fruchtbarere Gegend mit Apfel-, Walnuss- und Pflaumenbäumen am Straßenrand, die uns den heiß-ersehnten Schatten lieferten. Wir hobbelten weiter über Felsen, Kiesel und Sand, der Schweiß rann uns über das Gesicht und an unseren Körpern hinunter, wir atmeten viel Staub ein und fuhren hoch und runter und immer wieder hoch. Der Fluß tobte hunderte von Metern unter uns und wir konnten es kaum erwarten, endlich nur noch nach unten zu radeln und endlich wieder auf geteerten Straßen zu fahren. Ein Paar Stunden später war es dann soweit: endlich das ersehnte Dorf und endlich Asphalt. Wir wollten uns unser Mittagessen kaufen, wurden aber im ersten Laden von zwei Wodka-trinkenden Alten abgewiesen und im zweiten Laden gab es nur je vier kleine Becher Joghurt, zwei Tüten Chips und eine Tüte Schokokekse. Unter einen Baum aßen wir wie ausgehungerte Wölfe als einige Kinder angerannt kamen, uns kurz beobachteten, um dann wegzurennen und uns getrocknete Sonnenblumenkerne zu bringen. Ihnen war klar, dass wir sehr hungrig waren und ihr Einfühlungsvermögen und diese kleine Geste hat uns sehr bewegt.


Auf Asphalt fühlte sich das Radeln fast wie Fliegen an und wir genossen es in vollen Zügen, obwohl der Verkehr jetzt deutlich zunahm. Innerhalb weniger Tage erreichten wir Osch und feierten , was wir bisher erreicht hatten: immerhin hatten wir bis hierhin bereits sechs Pässe überquert und knapp 10.000 Höhenmeter erstrampelt. Mit zwei Ruhetagen bereiteten wir uns auf die nächste Herausforderung vor: den Pamir-Highway.








Das Radfahren war schwer in den letzten Wochen. Trotzdem haben wir jeden Tag genossen, unsere Freiheit, die unbeschreiblich schönen Landschaften und vor allem, dass wir in der Lage sind, das zu machen, was wir wollen.
